Casimirianum und Ernestinum Gotha auf "Denkwegen zu Luther"
Erfurt, Jugendhaus St. Sebastian - Eine Woche lang einmal frei sein, zu denken, zu fragen und sich auf völlig Fremdes einzulassen - diese Chance ergriffen 30 Schülerinnen und Schüler vom Gymnasium Casimirianum und von der Partnerschule Gymnasium Ernestinum Gotha. Vom 26.-30. Oktober 2015 kamen sie zusammen zu einer Projektseminarwoche unter dem Motto "Denkwege zu Luther" im Jugendhaus St. Sebastian in Erfurt. Innerhalb kürzester Zeit formte sich die Gruppe durch die Offenheit und das Aufeinander-zu-Gehen der Schüler zu einer dynamischen Einheit, in der Wertschätzung und Sympathie den Umgang miteinander während des gesamten Seminars prägten. Der Gothaer Schulleiter Dr. Wagner und die begleitenden Lehrkräfte Superintendent Witting vom Ernestinum und StR Narr vom Casimirianum waren beeindruckt. So ließ sich die gesamte Gruppe in drei "gemischten" Workshops von den Referenten der Evangelischen Akademie Thüringen und der Stiftung "Denkwege zu Luther" Axel Große, Carsten Passin und Stefan Kratsch anspruchsvoll zu den Themen "Auseinandersetzung in Wort und Bild", "Sprache und ihre Funktionen" sowie "Wort wird Bild - Bild wird Wort" einladen. Durch unerwartete Impulse, völlig unkonventionelle Fragen und die Herausforderung, den Dingen auf den Grund zu gehen konnten die Schüler in den Workshops erstaunliche Entdeckungen machen und scheinbar längst Bekanntes neu und völlig anders wahrnehmen. Dabei setzten sie sich mit Texten und Sprache aus der Zeit der Reformation ebenso auseinander wie mit modernen Entsprechungen. "Dass Martin Luther so gewaltigen Einfluss auf die deutsche Sprache hatte- das wusste ich gar nicht…", so Ardian aus Coburg. Kritisch und kontrovers diskutierte man da zum Beispiel über die Freiheit der Meinungsäußerung und deren Grenzen im Zusammenhang mit den Karikaturen von Charlie Hebdo und nahm dabei auch die öffentlichen Reaktionen und wiederum deren Folgen in den Blick. Für Rebekka, Schülerin vom Casimirianum, waren das Interessanteste: "Diese verschiedenen Perspektiven auf Charlie Hebdo."
Neben allem intensiven Denken - "Philosophieren heißt manchmal, dicke Bretter zu bohren", so Carsten Passin - besuchte die Seminargemeinschaft auch Gotha und dort das Gymnasium Ernestinum sowie das renovierte Augustinerkloster, wo 1524 der Gothaer Reformator Friedrich Myconius die Schule gründete, die heute im Gymnasium Ernestinum Gotha weiterlebt. Ein weiterer Höhepunkt war der Besuch der Forschungsbibliothek auf Schloss Friedenstein, das die Gothaer Altstadt überragt. Dort konnten sie Schüler nur durch eine Glasscheibe getrennt Originale aus der Reformationszeit, unter anderem Martin Luthers eigenhändigen Entwurf seiner Verteidigungsrede vor dem Reichstag in Worms 1521 ansehen, der jedoch unvollendet blieb: Luther führte dann wohl in freier Rede weiter aus… Kein Wunder, dass die in Schloss Friedenstein zu bewundernde Sammlung - unter anderem mit einem Original-Druck von Luther Schrift "Von Ablass und Gnade", in der er seine 95 Thesen erklärte und wodurch er in allen deutschen Landen bekannt wurde, sowie einem der ersten Exemplare der vollständigen Lutherbibel von 1534 mit feinster Kolorierung aus Weimar - zum Weltdokumentenerbe erhoben wurde.
Der vorletzte Tag stand jedoch noch einmal unter anderen Vorzeichen: Die Seminargruppe besuchte die historischen Lutherstätten in Erfurt - die Georgenburse als Luthers Studienquartier und das Augustinerkloster, in das Luther 1505 gegen den Willen seines Vaters eintrat - und dann die Stasi-Untersuchungshaftanstalt in der Andreasstraße, direkt am Domplatz. "Die Isolationszelle … einfach krass". "Da konnte man sich vorstellen, was die Menschen hier durchlitten haben …", meinen Vladimir und Justin. Die detailreichen und immer wieder Beklemmung hervorrufenden Ausführungen zu den Methoden der Stasi und zum Rundgang durch das fast im Originalzustand erhaltene Gebäude hinterließen einen tiefen Eindruck bei allen Teilnehmern. Dass sich die Inhaftierten nur über Klopfzeichen oder mittels des "weißen Telefons" über die vom Wasser entleerten Rohre der Toiletten für kurze Zeit verständigen konnten, wird für viele Schüler unvergesslich bleiben. Ebenso die Interview-Runde mit dem Zeitzeugen Pfarrer Christoph Dietrich, seit kurzer Zeit Landesbeauftragter für die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit im Land Thüringen. Er erzählte von den Schikanen wegen seines Ausreiseantrags, von der permanenten Überwachung und seiner inneren Flucht in die Kunstszene und zum Dadaismus. Er nahm als Student an den Leipziger Montagsdemonstrationen teil, verpasste jedoch die Nacht der Grenzöffnung, weil er über der Ausarbeitung eines Referats vom Schreibtisch direkt ins Bett gegangen war. Ob er im Vorfeld eigentlich mit dem Mauerfall gerechnet hätte? Es sei seine Hoffnung gewesen … aber eigentlich: Nein. So eine seiner ehrlichen und offenen Antworten im Gespräch mit den Schülern. Und so wurden auch diese Impulse und Eindrücke in den Seminaren weiterverarbeitet und weitergedacht. "Am meisten zum Nachdenken hat mich gebracht, dass wir heute unsere Daten und damit unsere Privatsphäre so freiwillig preisgeben. Für die Stasi wäre der heutige Stand der Technik ja ein Paradies…", sagt Vladimir am Ende der Woche.
Und so bleiben von dieser Woche: jede Menge neue Gedanken, ein Schatz an neuen Erkenntnissen und Hintergrundwissen, viele offene Fragen und das Bewusstsein einer engen Verbundenheit und neuer Freundschaften: "Unsere Partnerschüler waren richtig toll, es war so schön miteinander…", "Die Gothaer sind viel offener als die Bayern." und "Wann machen wir wieder etwas gemeinsam?" Ein Wiedersehen auf dem Erfurter Weihnachtsmarkt, ein Besuch direkt in Gotha können die nächsten Schritte einer herzlichen Partnerschaft werden. Und im Herbst 2016 wird es ein weiteres gemeinsames Seminar im Rahmen der "Denkwege zu Luther" geben. Alle Beteiligten freuen sich darauf!
03.11.2015 StR Tobias Narr, Gymnasium Casimirianum Coburg
In einer Seminargruppe
In der Stasi-U-Haftanstalt Andreasstraße